Ayça

Über Heimat, Freiheit und Unsicherheit

Ich bin Ayça, ich komme aus Istanbul und mache gerade meinen Master. Seit zweieinhalb Jahren lebe ich in Deutschland.

Istanbul ist riesig, laut, chaotisch, was ich richtig mochte. Meine Kindheit war davon aber abgeschirmt. Ich lebte in einer Art bürgerlicher Blase, war neugierig, hatte ein Archäologie-Set und tanzte Ballett. Doch schon früh wurde mir bewusst, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich behandelt werden. In der Ballettschule fühlte ich mich fehl am Platz. Während andere sich zurechtmachten, las ich. Ich wusste früh: Mit 18 würde ich weggehen.

Die Religion meiner Großeltern war mehr Tradition als Glaube. Doch irgendwann begann die Regierung, Religion als Waffe zu benutzen. Das war der Moment, in dem ich verstand, dass ich nicht bleiben wollte.

Zugehörigkeit und Identität

Mein Gefühl des Nicht-Dazugehörens begann in der Ballettschule. Ich passte nicht in dieses Bild eines Mädchens. Später merkte ich, dass Zugehörigkeit nicht am Ort hängt, sondern an einem Gefühl. Trotzdem trifft es mich, wenn ich hier einen Witz nicht verstehe oder ein Wort nicht kenne.

In Deutschland dauert es, sich frei und wohl zu fühlen. Aber ich gewinne langsam dieses Gefühl. Ich liebe die Unabhängigkeit, das freie Denken, sogar die Sauna. Ich kann nachts allein nach Hause laufen, und niemand interessiert sich dafür. Das ist neu für mich.

Pässe, Grenzen und Unsicherheiten

In der Türkei wächst man mit dem Gefühl auf, weniger wert zu sein als Europäer. Du musst härter arbeiten, dich ständig beweisen. Dieses Gefühl hat mich lange begleitet.

Noch immer ist es nicht ganz weg.

Wir idealisieren Europa – bis wir Menschen treffen, die nie ihr eigenes Land verlassen haben, nichts über ihre Geschichte wissen. Ich genieße, was die Kultur hier bietet. Aber dann merke ich: Ich habe keinen europäischen Pass. Mein Leben ist an das Ablaufdatum meines Visums gebunden. Ich arbeite, studiere – und trotzdem ist meine Zukunft nicht garantiert.

Manchmal denke ich nicht darüber nach, weil es mich lähmt. Es macht mich wütend. Ich ziehe mich zurück, entferne mich von meinen Kommilitonen.

Was ich mitgebracht habe

Ein großer Koffer und ein Blumentopf. Die Erde darin ist mein Erinnerungsspeicher. Ich habe kleine Objekte darin vergraben – getrocknete Blumen, Dinge mit Geschichte.

Leben ohne Bürokratie?

Weniger Stress, mehr Freude. Aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer, mir das vorzustellen.

Leben ohne Bürokratie?

Eine Schlange. Sie ist lang, lautlos, schleicht sich ein. Sie kann dich ersticken oder direkt vergiften.

Gibt es etwas Gutes an Bürokratie?

So schrecklich es war – es hat mich geformt. Ich würde es wieder tun. Ich würde nicht in Istanbul leben, aber es bleibt für immer meine Lieblingsstadt.

Zukunft der Staatsbürgerschaft?

Gerade sehe ich nur Abschottung. Trump, AfD, Erdoğan – alle wollen sich isolieren. Wir leben in einer Orwell’schen Realität. Aber ich glaube noch an die Kraft der Menschen. Ich hoffe.

Wie fühlt sich dein jetziger Wohnort

im Vergleich zu Istanbul an?

Viel mehr Autos. Ich hasse es. Die Menschen sind viel individualisierter, aber gleichzeitig viel freier.

Wenn ich schlecht drauf bin, sage ich mir: Es ist okay. Es ist Teil des Weges. Wasser findet seinen Weg. Ich kann nicht alles kontrollieren – und das ist in Ordnung.